Fulda. „Wie herrlich ist es, dass niemand eine Minute zu warten braucht, um damit zu beginnen, die Welt zu verändern.“ Mit diesen Worten von Anne Frank plädierte Bernd-M. Wehner bei einem Vortrag vor der Kreisseniorenunion Fulda in Künzell für ein größeres Engagement der Christen in der Gesellschaft. Da der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne, wie es der ehemalige Verfassungsrichter Ernst Wolfgang Böckenförde formuliert habe, sei es um so notwendiger, dass sich Christen offensiver dafür einsetzten, dass christliche Wertvorstellungen in Staat und Gesellschaft, in Wirtschaft und Arbeitswelt mehr und mehr verwirklicht würden.
Der KKV-Bundesvorsitzende, der gebürtiger Fuldaer ist, warb deshalb unter dem Motto „Dem Zeitgeist anpassen oder klare Kante zeigen? Welchen Einfluss haben Christen noch in Gesellschaft und Politik?“ für ein klares christliches Profil in der Politik. „Streichen Sie deshalb Formulierungen wie ‚man müsste’ oder ‚man sollte’, sondern setzen Sie sich einfach dafür ein, dass unsere Welt christlicher und somit menschlicher wird“, so sein Appell an die Mitglieder der Seniorenunion.
Schweigespirale
Im Übrigen entspreche das Schwinden der Bekenntnisbereitschaft nach Elisabeth Noelle-Neumanns Theorie der „Schweigespirale“. Danach wollten Menschen sich nicht isolieren, beobachteten ständig ihre Umwelt und registrierten aufs Feinste, welche Werte, Meinungen und Verhaltensweisen zu- und welche abnähmen. Wer den Eindruck habe, dass seine Einstellung an Boden verliere, verfalle zunehmend in Schweigen: Anhänger der (vermeintlichen) Mehrheitsmeinung bekämen „Oberwasser“ und exponierten sich umso ungehemmter, mit dem Ergebnis dass sie schließlich noch stärker erschienen, als sie tatsächlich seien.
Und weil sich der christliche Glaube nicht auf das Religiöse beschränken dürfe, so der KKV-Bundesvorsitzende, müssten sich Christen vor allem im Alltag bewähren. „Statt unsere Schätze zu vergraben, müssen wir mit ihnen wuchern.“ Einer dieser Schätze sei die Katholische Soziallehre – unser bestgehütetes Geheimnis. Schließlich suchten gerade in der heutigen Zeit, in der vielfach aus Gleichgültigkeitalles gleich gültig erscheine, die Menschen Orientierung. „Als Christen können wir ihnen diese Orientierung geben. Wir haben ein Menschenbild, das ohnegleichen ist. Denn nur wenn man den Menschen als Ebenbild Gottes sieht, kann man seine menschliche Würde wirklich begründen.“ Insofern sollten auch Menschen, die nicht an Gott glauben, froh sein, dass auch ihre Menschenwürde durch dieses christlich geprägte Bild geschützt würde, unterstrich Wehner.
Anpassung ist der falsche Weg
Gleichzeitig wies der Referent darauf hin, dass der Wind des Relativismus insbesondere der katholischen Kirche mächtig um die Ohren blase. „Bei vielen Themen steht sie quer zum Zeitgeist: Lebensschutz, Unauflöslichkeit der Ehe, Frauenordination, Zölibat, um nur ein paar Reizthemen zu benennen.“ Viele Katholiken meinten deshalb, Kirche müsse sich dem Zeitgeist anpassen, da sie sonst Gefahr laufe, in die Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Deswegen dürften auchGesetze nicht einfach einer unvernünftigen Lebenswirklichkeit angepasst werden. Vielmehr müsse die Lebenswirklichkeit den Gesetzen der Vernunft gehorchen.
Lebensschutz – ohne Wenn und Aber
So zeige die aktuelle Diskussion um den Lebensschutz, wie schnell man hier auf eine schiefe Ebene komme. „Es ist geradezu absurd, die Beihilfe zur Tötung mit Solidaritätsgefühlen für den Kranken zu verbinden“, so Wehner wörtlich. Wer könne mit Sicherheit erkennen, ob der ‚Wunsch’ sich selbst zu töten, wirklich aus freiem Willen erfolge? Nicht selten seien es schwere psychische Erkrankungen, die Menschen dazu bewegten, ihrem Leben ein Ende zu setzen. „Leben ist aber ein Geschenk, über das wir weder am Anfang noch am Ende frei verfügen können.“ Gefragt sei vielmehr eine liebevolle Betreuung bis zum Tod und nicht die Beförderung in den Tod.
Ehe und Familie bilden das Fundament für die Gesellschaft
Darüber hinaus plädierte Wehner eindringlich für die christliche Sicht von Ehe und Familie. Schließlich sei die Familie Grundlage für unsere Gesellschaft. Basis hierfür sei die Ehe zwischen Frau und Mann. Als kleinste Zelle unserer Gemeinschaft vollbringe die Familie Leistungen, die von anderen Institutionen nicht erbracht werden können. In ihr erführen Menschen Geborgenheit und Zuwendung. In ihr könnten am besten Werte vermittelt und Verhaltensweisen eingeübt werden. In der Familie erhielten Kinder Orientierung für ihr späteres Leben. Leider würden aber mehr und mehr Ehe und Familie in der heutigen Zeit in Frage gestellt werden. Das bedingungslose Ja sei jedoch für den Zusammenhalt von Menschen der entscheidende Faktor.
Ethik in der Wirtschaft
Ein weiterer Schwerpunkt seiner Ausführungen war die Finanz- und Wirtschaftskrise. Hier habe man zwar wieder die Ethik in der Wirtschaft entdeckt und damit auch den „Ehrbaren Kaufmann“, doch überwiege inzwischen schon wieder die Einstellung nach dem schnellen Gewinn. „Mit einer ‚Geiz-ist-geil-Mentalität’ kann man im Einzelfall mal ein Schnäppchen machen“, unterstrich Wehner, „langfristig schadet man aber einer am Menschen orientierten Wirtschaft. Nur wenn der Mensch im Mittelpunkt steht und Werte wie Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und Maß Leitschnur für das Handeln in Politik und Gesellschaft sind, kann es eine auf Nachhaltigkeit basierende Wirtschafts- und Sozialordnung geben.“ Der „ehrbare Kaufmann“ müsse nicht nur in aller Munde sein, sondern er müsse vor allem praktiziert werden.
Sonntagsschutz wichtiger denn je
Wehner beklagte sodann die zunehmende Arbeitszeit an Sonn- und Feiertagen. So habe in Deutschland die Sonn- und Feiertagsarbeit in einem erschreckenden Maße zugenommen. Während vor 20 Jahren noch 7,5 Millionen Erwerbstätige gelegentlich, regelmäßig oder ständig von Sonntagsarbeit betroffen waren, sei diese Zahl inzwischen auf elf Millionen gestiegen. Von daher brauche man sich nicht zu wundern, wenn gerade die junge Generation heute zunehmend über Stress und burn-out am Arbeitsplatz klage, weil von der Werkbank bis zur Chefetage der Sonntag als Tag des Abschaltens, des Innehaltens und der Ruhe fehle. Eltern und Kindern helfe es nicht, wenn alle zu unterschiedlichen Zeiten frei hätten. Selbst im Handel gehe ein Verzicht auf den freien Sonntag zu Lasten von Mittelstand und Familienunternehmen.
„Mut zur Balance zwischen Arbeit und Freizeit“
Die Meldung, dass knapp 75.000 Männer und Frauen in 2012 wegen psychischer Störungen arbeitsunfähig geworden seien und erstmals eine Erwerbsminderungsrente bezogen hätten, zeige, dass der KKV mit seinem Jahresthema ‚Mensch bleib im Gleichgewicht – Mut zur Balance zwischen Arbeit und Freizeit’ den Nerv der Zeit getroffen habe. Deshalb plädiere man immer wieder für eine Arbeitsphilosophie, die den Menschen in den Mittelpunkt stelle. Hierzu gehörten auch eine Kultur der Unerreichbarkeit – zumindest am Sonntag und im Urlaub.
So hätten viele Erkrankungen – wie beispielsweise Burn out – seelische Ursachen haben. Nach Auskunft der Ärzte seien etwa 60 Prozent der heutigen Krankheiten sogenannte Leiderkrankungen. Das heißt: Sie haben ihre Ursachen in einer gestörten Seele, einem instabilen Innenleben, einer fehlenden inneren Balance. Im KKV diskutiere man das Thema auch im Rahmen der bundesweit angestoßenen Kampagne www.neue-arbeitskultur.de. Mit einem eigenen Plakatmotiv werbe man bereits seit längerem via facebook für die “Kultur der Unerreichbarkeit”.
Zusammenfassend stellte der KKV-Bundesvorsitzende fest: „Die Themenpalette, bei denen wir als Christen gefragt sind und wo wir Stellung beziehen müssten, ist riesig.“ Die Frage sei also: Wie gehen wir als Christen damit um? Legen wir die Hände in den Schoß und sagen, wir können eh nichts ändern? Oder sagen wir: Als Christen sind wir heute mehr denn je gefordert, uns in die Gesellschaft einzubringen. „Vergraben wir also nicht unsere Talente, sondern wuchern wir mit ihnen.“