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Fachtag „Ehre und Gewalt – Zwischen Tradition und Moderne“ am 1. September 2011

Fulda. Ihr Bruder sieht sie bei ihrem Freund im Auto. Zu Hause stellt der Vater die siebzehnjährige Selina (Name geändert) zur Rede. Als er erfährt, dass sie schon seit zwei Jahren mit dem jungen Mann befreundet ist, schlägt er sie und sperrt sie ein. Auch zur Schule darf  sie nicht mehr gehen. Weil Selina sich nicht an die traditionellen kulturellen Normen und Werte gehalten hat, nach denen ihre türkische Familie lebt, beschließt der Familienrat, die junge Frau drei Tage später in die Türkei zu bringen, um sie mit einem 39-jährigen geschiedenen Mann zu verheiraten. Mit Unterstützung ihrer Mutter gelingt ihr die Flucht. Selina findet Hilfe bei einer Sozialpädagogin vom Jugendamt, die sie in einer anderen Stadt anonym unterbringt.

Gewalt gegen Frauen und Männer kommt in deutschen wie in türkischen Familien vor. Gewalt im Namen der Ehre ist ein spezielles Problem in stark patriarchalisch strukturierten und oft stark religiös geprägten Familien. Besonders häufig betroffen sind Mädchen ab der Pubertät. Der Grund ist: Die Ehre der Familie ist in einigen Kulturen aufs engste mit der Keuschheit der Frau verbunden. Schon ein Gespräch mit einem Fremden reicht aus, um dem Ansehen der Familie zu schaden und die Familienehre zu verletzen. Um jungen Frauen eine Rückbesinnung auf ihre traditionelle Rolle aufzuzwingen, werden sie unterdrückt, bedroht, erpresst, zum Teil auch misshandelt, in die Wohnung der Eltern eingesperrt, gefoltert oder zwangsverheiratet. In der extremsten Form ist auch der Ehrenmord nicht auszuschließen. Die Täter sind oft enge Familienangehörige: Väter, Brüder oder Cousins, die als Beschützer der Familienehre unter dem Druck der eigenen Community handeln.

Eine aktuelle Studie des Bundeskriminalamts in Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg kommt auf der Basis von Prozessakten zum Schluss, dass etwa 12 von circa 700 Tötungsdelikten pro Jahr in Deutschland im weiteren Sinne als Tötungen in der Grauzone zwischen kollektiver Familienehre und individueller männlicher Ehre betrachtet werden können. Drei davon sind Ehrenmorde im engeren Sinne. Die Zahlen sind zwischen 1996 und 2005 gleich geblieben.

Statistiken, wie viele junge Frauen und Männer durch Gewalt im Namen der Ehre bedroht sind oder zwangsverheiratet werden, gibt es nicht.  Die Betroffenen erstatten keine Anzeige, weil sie Angsthaben. Doch es gibt Indizien dafür, dass das Thema viele Menschen beschäftigt. „Unsere Informationsangebote sind stark nachgefragt“, sagt Elvira Idt, Geschäftsführerin der regionalen Geschäftsstelle „Netzwerk gegen Gewalt“ im Polizeipräsidium Osthessen. Vier Fachtage habe das Netzwerk bereits für Betroffene und für Vertreter aus Behörden, Beratungsstellen und Schulen ausgerichtet. Alle seien auf großes Interesse gestoßen.

Traditionell oder selbstbestimmt leben?

Wie schwierig die Situation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund ist, weiß Renate Lackner, Referentin in der Violeta gGmbH, einer Jugendhilfeeinrichtung für Mädchen und junge Frauen nach Gewalterfahrungen. “Infolge ihrer westlich sozialisierten Lebenswelten können sie sich nicht mehr mit den tradierten Frauenrollen ihres Kulturkreises identifizieren“, erklärt sie. Voller Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben und einer freien Partnerwahl gerieten die jungen Frauen in existentielle Konflikte. In traditionell geprägten Familien müssten sie entscheiden, sich entweder zu fügen und zu leiden oder mit der Familie zu brechen, eine neue Identität anzunehmen und von da ab mit der Angst zu leben, geächtet, verfolgt und vielleicht sogar umgebracht zu werden.

Besonders schwierig, sagt sie, ist die Situation der Importbräute. Sie kommen fremd und ohne Sprachkenntnisse in die Familie des in Deutschland lebenden Mannes und führen dort ein Leben wie eine Magd, die sich über die Geburt von Söhnen in der Familienhierarchie nach oben bringen kann.  Diese Frauen seien, wenn es zu Konflikten kommt, dem fremden Familiensystem hilflos ausgeliefert. „Aus Forschungen zur interpersonellen Gewalt wissen wir, dass Partnergewalt gegen Frauen solange möglich ist, wie Frauen in Beziehungen Gefahr laufen unterlegen zu sein“, erläutert Kerstin Krüger. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe „Gesundheitsschutz bei interpersoneller Gewalt“ des Fachbereiches Pflege und Gesundheit an der Hochschule Fulda. Nicht selten sei der gefährlichste Augenblick, wenn Frauen autonom und selbstbestimmt ihren Weg gehen und eine Gewaltbeziehung verlassen wollen. Das gelte unabhängig vom Kulturkreis. Darauf sei in der Studie des Bundeskriminalamts erneut verwiesen worden.

Um aus dem Teufelskreis von Angst, Enttäuschung und  Gewalt  heraustreten zu können und nach Lösungen zu suchen, ohne in der Gemeinschaft geächtet zu werden, benötigen die Betroffenen die Hilfe und Beratung kompetenter Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner. „Wir brauchen einen ähnlichen Bewusstwerdungsprozess, wie er vor 30 Jahren für das Thema sexuelle Gewalt begonnen hat“, fordert Renate Lackner. Deshalb sei eine kontinuierliche Aufklärungsarbeit nötig. „Es muss jedem Menschen, der im Geltungsbereich des Grundgesetzes lebt, möglich sein, die verbrieften  Grundrechte in Anspruch zu nehmen, an oberster Stelle das Recht auf Leben  und die Achtung seiner Würde.“

Aufklären und sensibilisieren

Wie wichtig Aufklärung ist, betont auch Kriminaloberkommissar Hayri Senol. Als Migrationsbeauftragter im Polizeipräsidium Osthessen sieht er sich immer wieder mit Gewalttaten im Namen der Ehre konfrontiert.  Dabei fällt ihm auf, „dass gerade die dritte Generation mit den Wertvorstellungen aus den Herkunftsländern ihre Schwierigkeiten hat“.  Während sich die zweite Generation noch den traditionellen Werten und Normen gebeugt habe, lehnten sich die jungen Nachkommen der Migrantinnen und Migranten aus dem türkisch-arabischen Raum immer häufiger dagegen auf. „Die Freiheiten, die Freunde deutscher Herkunft vorleben, etwa eine freie Partnerwahl und eine selbstbestimmte Lebensweise, werden auch von ihren türkisch- oder arabischstämmigen Altersgenossen eingefordert“, weiß Hayri Senol. Es gehe um das Bedürfnis nach Gleichstellung in der Gesellschaft, in der man sich zu Hause fühle. Doch Eltern oder Großeltern hätten dafür nicht immer Verständnis.

Die Opfer unterstützen und schützen

Umso wichtiger sei es, für diese Form der Gewalt zu sensibilisieren, betont  Elvira Idt. Aus ihrer täglichen Arbeit weiß sie, dass das Thema viele Menschen in Schulen, Behörden und Beratungsstellen beschäftigt. Jetzt will sie das Thema auch in Osthessen aufgreifen und in den öffentlichen Fokus rücken. „Mir ist es nicht nur wichtig, zu informieren und zu sensibilisieren. Ich möchte auch aufzuzeigen, wie Opfer wirksam unterstützt und geschützt werden können“, erläutert sie. Was ist unter dem Ehrbegriff zu verstehen? Wo kann es in diesem Zusammenhang zu Konflikten kommen? Wie lässt sich erkennen, dass jemand im Namen der Ehre bedroht wird? Wie finden Betroffene Hilfe? Auf diese Fragen wollen das Netzwerk gegen Gewalt, das Polizeipräsidium Osthessen, die Violeta gGmbH und die Hochschule Fulda am 1. September 2011 auf dem Fachtag „Ehre und Gewalt – Zwischen Tradition und Moderne“ Antworten finden.

Fachtag „Ehre und Gewalt“ am 1. September 2011

  • Ort: Hochschule Fulda, Halle 8
  • Beginn: 9:30 Uhr
  • Anmeldung: bis 1. September über: www.system2teach.de/Anmeldung-Fachtag
  • Weitere Informationen: www.netzwerk-gegen-gewalt.de

Begleitprogramm zum Fachtag:

  • Lesung aus dem aktuellen Buch von Dr. Necla Kelec  „Himmelsreise“

31. August 2011 um 19.30 Uhr
Buchhandlung Uptmoor, Friedrichstraße , Fulda

  • Filmabend „Die Fremde“ mit anschließender Diskussion

27. September 2011 um 19.30 Uhr
CineStar Fulda, Löhrerstraße

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