Gersfeld. Es gibt sie schon im Landkreis: Die erste Schule, die komplett ohne Wandtafeln auskommt und stattdessen in jedem Klassenraum mit elektronischen „Active Boards“ ausgestattet ist. Doch nicht nur in diesem Punkt übernimmt die seit 1972 in Gersfeld bestehende Anne-Frank-Schule (AFS) eine Vorreiterrolle. Derzeit besuchen 79 Kinder und Jugendliche die Schule für Lernhilfe, die dank ihrer zentralen Lage im Gersfelder Schulviertel ungewöhnlich differenzierte Förderangebote unterbreiten kann: So nehmen beispielsweise einzelne Schüler der benachbarten Otto-Lilienthal-Grundschule am Deutsch-Unterricht der AFS teil, und umgekehrt gehen Anne-Frank-Schüler in Fächern, in denen sie besonders leistungsstark sind, in den regulären Grundschulunterricht.
Die Zusammenarbeit mit der benachbarten Grundschule und der Rhönschule ist nach Aussage von Schulleiter Gregor Walther außerordentlich gut. Neben einer SchuB-Klasse (Hauptschul-Praxisklasse), in der auch Schülerinnen und Schüler der Rhönschule (Gesamtschule) sind, gibt es fünf Klassen: zwei Grundstufen, eine Mittelstufe und zwei Hauptstufen. Die 6- bis 17-jährigen Schülerinnen und Schüler werden von acht Lehrkräften, einer Referendarin sowie für einzelne Stunden abgeordneten Pädagogen der Otto-Lilienthal-Schule und der Rhönschule unterrichtet. Dass das Kollegium so klein ist, trägt zum familiären Charakter der Schule bei und ermöglicht kurze Entscheidungswege.
Lebensfragen vor Lernfragen
Der Deutsch- und der Mathematikunterricht finden jeweils zeitgleich statt, so dass die Kinder in diesen Hauptfächern ihrem individuellen Lernstand entsprechend gefördert werden können. Auch die Klassenzusammensetzung ist jahrgangsübergreifend und orientiert sich am individuellen Leistungsvermögen. Doch noch vor den „Lernfragen“ stehen in der ASF die „Lebensfragen“. Dies ist laut Schulprogramm wichtig, weil viele der Schülerinnen und Schüler, die wegen ihrer Lernbeeinträchtigungen sonderpädagogischer Förderung bedürfen, oft ein mangelndes Selbstwertgefühl besitzen. Die Ich-Stabilität der Kinder und Jugendlichen soll nicht in einem abgeschotteten Schonraum aufgebaut werden, sondern die Schule versteht sich als Lebens-, Lern-, und Handlungsraum. Um das Ziel zu erreichen, die Absolventen in die Arbeitswelt und das gesellschaftliche Umfeld zu integrieren, propagiert die Schule eine größtmögliche Öffnung nach außen, beispielsweise durch unterschiedliche Lernorte wie Ämter, Betriebe, Museen oder Arztpraxen sowie Einbeziehung externer Experten.
Ein Schwerpunkt liegt in der Berufsorientierung, in der die Anne-Frank-Schule hessenweit Pionierarbeit geleistet hat. So führte sie vor Jahren als eine der ersten einen Praxistag ein, an dem Zehntklässler an einem Tag der Woche das gesamte Schuljahr hindurch in einem Betrieb arbeiten. Jeder Schüler soll mindestens vier, möglichst jedoch sechs Blockpraktika absolvieren – zusätzlich zu Betriebsbesichtigungen und Schnupperpraktika. Eine besondere Erfahrung bedeutete im zurückliegenden Sommer für zehn Schülerinnen und Schüler der Hauptstufe ein vierwöchiges Praktikum in Izmir (Türkei) im Rahmen des europäischen Programms „Integration durch Austausch“. Hier arbeiteten sie in der Woche drei Tage in einem türkischen Betrieb und besuchten zwei Tage eine türkische Berufsschule. Eine türkischstämmige Mutter hatte zuvor den Teilnehmern ehrenamtlich Grundkenntnisse der türkischen Sprache beigebracht.
Zur Berufsvorbereitung gehört unter anderem, dass die Kinder den Umgang mit modernen Medien lernen: Zusätzlich zu den Active-Boards stehen insgesamt 16 PC-Arbeitsplätze und jeweils drei PCs in den einzelnen Klassen zur Verfügung. Alle PCs sind miteinander vernetzt. Von den älteren Schülerinnen und Schüler besitzt jeder eine eigene Email-Adresse. Als nächstes möchte Gregor Walther eine komplette Laptop-Klasse einrichten, um mit diesem Medium neue Erfahrungen zu sammeln.
Die Kooperation mit dem Landkreis Fulda hebt der Schulleiter lobend hervor. Aus dem Konjunkturprogramm flossen 2009 140 000 Euro in die Dämmung der Außenfassade und die Sanierung der WCs an der Anne-Frank-Schule. „Auch darüber hinaus fühlen wir uns sehr gut finanziell gefördert und unterstützt“, unterstreicht er und nennt neben erfolgten Baumaßnahmen den schuleigenen Arbeitscoach als Beispiel. Der Arbeitscoach ist für den Übergang von der Schule in die Ausbildung zuständig.
In den Klassenräumen fällt nicht nur die moderne technische Ausstattung ins Auge, sondern auch neues Mobiliar und dass sich in jedem eine Küchenzeile mit Kühlschrank befindet. „Etwa ein Drittel der Kinder kommt aus sozial schwierigen Familien; sie sollen in der Schule eine zweite Heimat finden“, erläutert Gregor Walther, der seit 2000 die AFS leitet. Dass dies gelinge, sehe er an Kindern, die „bei uns regelrecht aufblühen und wieder Spaß am Lernen finden“.
Als Vorbereitung auf das Leben nach der Schule gibt es zudem ein Schulparlament, das demokratische Grundstrukturen erfahrbar macht, und einen von Schülern eigenständig geführten Pausenladen. Nach der Schulzeit wird ebenfalls keiner ins kalte Wasser geworfen. Die Nachversorgung gehört mit zu den Aufgaben der Schule. „Der älteste Ehemalige, den wir betreuen, ist 43 Jahre alt“, berichtet Gregor Walther, der bei Problemen einstiger Schüler Ansprechpartner für die Bundesagentur für Arbeit oder Einrichtungen wie die Schuldnerberatung bleibt. Die „Nachbetreuung“ führen zwei Kollegen und eine Kollegin durch.
Ein Ziel der Förderschulen sollte laut Hessischem Lehrplan für die Schule für Lernhilfe eine Rückschulung in die Regelschulen sein. Doch daran lässt sich der Erfolg der AFS nicht messen. Stattdessen bietet sie selbst die Möglichkeit des Hauptschulabschlusses an. „Bei uns haben im vergangenen Jahr von 14 Abgängern zwölf den Hauptschulabschluss geschafft und davon wiederum acht sogar den qualifizierten mit Englisch-Prüfung“, erklärt Gregor Walther. Dank der intensiven Berufsvorbereitung und -begleitung ist nach seinen Angaben der Anteil der Abgänger, die im sozialen Netz aufgefangen werden müssen, relativ gering. In den letzten Jahren bekamen rund 90 Prozent einen Platz im ersten Ausbildungsmarkt.
Beratungs- und Förderzentrum
Seit diesem Schuljahr ist die AFS Beratungs- und Förderzentrum, das heißt, sie unterstützt allgemeine Schulen dabei, ein angemessenes Förderangebot zu entwickeln und umzusetzen, so dass jedes Kind, dessen Eltern dies wünschen, trotz Lernschwierigkeiten in seiner gewohnten Schulumgebung bleiben kann. Dass seiner Einrichtung aufgrund dieser Entwicklung langfristig die Schüler ausgehen, fürchtet Walther nicht: „Unsere Schülerzahlen sind in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. Das Ziel ist, ein so gutes Angebot zu unterbreiten, dass die Eltern von sich aus ihre Kinder zu uns schicken.“ Zusätzlich zu dem eigentlichen Einzugsbereich der Schule (Gersfeld, Ebersburg und Poppenhausen mit den jeweiligen Stadt- und Ortsteilen) besuchen neun Schülerinnen und Schüler aus Petersberg, Friesenhausen, Trätzhof und Weyhers die AFS.
„Wir platzen aus allen Nähten“, formuliert der Schulleiter bildlich – und genauso lässt sich der Aktenordner beschreiben, in dem sämtliche Urkunden und Auszeichnungen gesammelt sind, welche die AFS in den vergangenen Jahren erreicht hat. Im hessenweiten Wettbewerb „Sicherer Pausenhof“ belegte die Schule vor kurzem den ersten Platz und wird im Februar dafür ausgezeichnet. Weiterhin wird die AFS in diesem Schuljahr voraussichtlich wieder einmal mit bei den „Ersten“ sein: Als erste Schule in Trägerschaft des Kreises steht die Prädikatisierung zur „Gesunden Schule“ (Auszeichnung des Hessischen Kultusministeriums) bevor. Auf diese Zertifizierung hat sie vier Jahre hingearbeitet. Die dazu notwendigen vier Teilzertifizierungen hat sie bereits erhalten. Auch nach dieser Zertifizierung stehen neue Projekte bevor: So wird die Anne-Frank-Schule im nächsten Schuljahr an drei Tagen in der Woche eine Ganztagsschule werden.