Fulda. „Wir sind das Volk“ – das ist für ihn der schönste Satz der deutschen Demokratie. „Als wir diesen Satz auf die Straße getragen haben, war das für mich die größte Zeit meines Lebens“, erklärte Dr. Joachim Gauck den etwa 400 erwartungsvollen, geladenen Gästen im voll besetzten Fürstensaal des Fuldaer Stadtschlosses. Anlässlich des 20. Jahrestages der Wiedervereinigung hielt der 70-Jährige auf Einladung der Stadt Fulda und der Rotary Clubs Fulda, Fulda Paulustor und Rhön vor deren Mitgliedern, zahlreichen Politikern, Vertretern der Kirchen, den Ehrenbürgern der Stadt und weiteren Ehrengästen eine bewegende Rede, die vielmehr ein Appell war. Ein Appell an die Deutschen, die Freiheit zu schätzen, mehr Verantwortung für das politische Geschehen zu übernehmen und sich aktiv in die Gesellschaft einzubringen. Anschließend trug er sich ins Goldene Buch der Stadt ein.
Mut und Zivilcourage
„Mit der Grenze im Rücken haben wir Fuldaer die Teilung immer als besonders schmerzlich empfunden und die Wiedervereinigung ganz unmittelbar und emotional erlebt“, so beschrieb Oberbürgermeister Gerhard Möller den besonderen Bezug der osthessischen Stadt zum Tag der deutschen Einheit, als er den Festredner im Namen der städtischen Gremien begrüßte. Dabei erinnerte er an die eindrucksvollen Erlebnisse der Wendezeit, wie den Gottesdienst auf dem Domplatz und die Trabis in den Fuldaer Straßen. Als DDR-Bürgerrechtler habe Gauck Mut und Zivilcourage bewiesen und sich engagiert für die Freiheit eingesetzt. Auch Dr. Jan Olischläger, Präsident des Rotary Clubs Fulda-Paulustor ließ den Ablauf der friedlichen Revolution kurz Revue passieren und erinnerte an die „undurchdringliche und menschenfeindliche Mauer“, die sich als „Zick-Zack-Band“ durch Deutschland zog. Da das SED-Regime unter dem Druck der friedlichen Massenproteste einknickte, sei es eine außerordentliche Freude, einen Zeitzeugen und aktiven Gestalter der jüngeren deutschen Geschichte zu Beginn der Feierlichkeiten rund um den 3. Oktober zu Gast zu haben. Dafür dankte er auch besonders dem langjährigen Freund Gaucks, Heinz Steege, der den Kontakt hergestellt hatte.
Der Wert der Freiheit
Dr. Gauck, der in diesem Jahr für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte, enttäuschte die hohen Erwartungen der Anwesenden nicht. Mit viel Herzblut und Überzeugung, aber auch mit Humor und Nachdruck fesselte er die Zuhörer. In seiner über einstündigen frei gehaltenen Rede war es ihm ein zentrales Anliegen, den Wert der Freiheit zu vermitteln. Denn vor der Einheit sei die Freiheit gekommen, betonte der DDR-Bürgerrechtler. „Das Besondere der Wiedervereinigung war, dass etwa 1/5 der Deutschen auf das Grundprinzip Freiheit geschworen hat, als die Menschen auf die Straßen gingen und die Angst hinter sich ließen“, betonte Gauck. Die Ferne von Freiheit in einem Unrechtsstaat lasse die Sehnsucht wachsen, so der evangelische Publizist und Pastor. Wichtig ist ihm dabei, dass die politischen Werte von 1989 keine Neuerfindung waren, sondern die der europäischen Demokratieprojekte: Freiheit, Herrschaft des Rechts und Mitwirkung aller. Eindringlich plädiert er daher dafür, dass sich die Bürger wieder stärker auf das rückbesinnen müssen, was unsere Gesellschaft auszeichnet. „Oder müssen wir erst in tiefer Dunkelheit sein, um die Freiheit zu schätzen?“, fragte er in die Runde.
Der SED-Staat forderte Gehorsam
Ergreifend waren auch seine Ausführungen über das „Leben in Ohnmacht mitten in der politischen Moderne“, wie er das Aufwachsen in der DDR bezeichnete. Vom Kindergarten, der Schule bis hin zum Beruf führte er den Anwesenden die „staatliche Gesamtaufsicht über alle Bereiche“ und den Druck, der auf die Menschen ausgeübt wurde, noch einmal vor Augen. Besonders verdeutlichte er, welche Auswirkungen es in der SED-Diktatur hatte, wenn man kein Mitglied der Partei war. Gauck fasste das prägnant zusammen: „Gehorsam bedeutete Aufstieg, Eigensinn Abstieg.“ Aus einer antikom-munistischen Familie kommend, spürten der spätere Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde und seine Angehörigen dies am eigenen Leib. So erhielt beispielsweise sein Bruder Eckhart, der Schiffsingenieur war, ohne Parteimitgliedschaft keine Beförderung. Intensiv ging der heutige Vorsitzende der Vereinigung „Gegen Vergessen – Für Demokratie“Â dabei auch auf die daraus resultierende Versuchung der DDR-Bürger ein, sich der Bildung oder des Aufstiegs wegen konform zu verhalten.
Als Erklärung für die stille Gefolgschaft und den Gehorsam führte der Theologe an, dass das Denken der Menschen sich zuallererst auf die Sicherung des eigenen Überlebens konzentriere. „Fragen Sie sich selbst mal, was Sie in dieser Zeit gemacht hätten“, forderte er die nachdenklich gewordenen Zuhörer auf und fügte hinzu, dass wir alle diktaturfähig seien. In diesem Zusammenhang ging er auch auf das Erstarken der Linkspartei – als Nachfolgepartei der SED – ein. Da die Ostdeutschen zwei Diktaturen hinter sich haben, fühlen sich noch nicht alle Bürger in einer freiheitlichen, offenen Gesellschaft wohl und würden dieser noch misstrauen. Denn sie seien noch nicht daran gewöhnt, selbständig ihrem eigenen Urteil zu folgen und eigenverantwortlich zu handeln. Zuversichtlich sagte er aber: „Diese Übergangsschwierigkeiten werden sich legen, wir wissen nur noch nicht wann.“
Verantwortung übernehmen
Aufgrund dieser prägenden Erfahrungen reagiert Gauck auf das zurückgegangene bürgerschaftliche Engagement und die sinkende Wahlbeteiligung in ganz Deutschland verständnislos. „Ich kann gar nicht Nichtwählen“, hob der Festredner hervor. Dabei beschrieb er den Wahlvorgang in der DDR, der lapidar „Zettelfalten“ genannt wurde, weil die Bürger ihren Wahlzettel gleich nach Erhalt falteten und in die Urne warfen, da ein Parteienpluralismus nicht gegeben war und die Dominanz der SED von vorneherein feststand. Freudentränen seien ihm daher bei seiner ersten freien Wahl über die Wangen gekullert, gab der 70-Jährige unverblümt zu.
Da diese Möglichkeit zur Mitbestimmung und die Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung unsere Gesellschaft auszeichne, sollten sich laut Gauck mehr Menschen aktiv beteiligen. Minutenlanger Beifall brandete auf, als Dr. Joachim Gauck senden Vortrag mit folgenden Worten beendete: „60 Jahre Menschenrechte, Bürgerrechte, Grundrechte, Herrschaft des Rechts und kein Angriff auf einen Nachbarn – noch nie hat die deutsche Nation eine solche Epoche erlebt und darauf sollten wir alle stolz sein.“ (cp)