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„Aktion Grundgesetz“ in Fulda – Aktionstag im Marmorsaal des Stadtschlosses

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Fulda. Seit 19 Jahren wird der „Tag des Grundgesetzes“ im Mai begangen, ein Feiertag ist er deshalb trotzdem nicht, eher ein Protesttag. Denn noch immer ist der Grundsatz der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen nicht verwirklicht, weder im Straßenverkehr, noch in der Freizeit und schon gar nicht in der Arbeitswelt, die in diesem Jahr besonders in den Blick genommen werden sollte. Dass das so ist, daran ändert auch der Artikel 27 der UN-Konvention nichts. Das machte auch der kleine Sketch deutlich, der von Brigitte Oswald und Christine Osafo vorgetragen wurde.

Die dargestellte Szene drehte sich um eine Frau, die „schnell mal“ auf einem Behinderten-Parkplatz parkt und eine Rollstuhlfahrerin, die sich darüber beschwert und dafür von der eiligen Autofahrerin abgekanzelt wird. Das Streitgespräch der beiden führte dem Publikum im vollbesetzten Marmorsaal des Stadtschlosses vor Augen, wie wenig sich selbst jemand, der sich für sozial engagiert und aufgeklärt hält, mit der Situation eines Behinderten auseinandersetzt. Das Verständnis füreinander fehlt. Kein Wunder, dass auch Arbeitgeber heutzutage immer noch inzwischen eindeutig widerlegten Vorurteilen aufsitzen und behinderten Bewerbern kaum eine Chance geben sich zu bewähren und sich gewinnbringend in ihr Unternehmen einzubringen.
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Dass daran die Behinderten selbst etwas ändern können, war eine der provokanten Thesen des Vortragsredners Dr. Peter Radtke und es blieb nicht die einzige. „Raus aus der Jammerecke, weg von der Klagemauer!“, lautete denn auch seine Forderung. Behinderte sollten nicht länger dem Klischee entsprechen, dass sie „dankbar, etwas dumm und leicht zu verwalten“ seien, sondern sie sollten mutig in den Vordergrund treten und der Gesellschaft zeigen, dass sie – ob es ihr passt oder nicht – ein Teil von ihr sind, und zwar nicht nur einer, der aus dem Raster fällt und Kosten verursacht, sondern einer, der sie in jedem ihrer Bereiche bereichert – mindestens um eine menschliche Dimension.

Wie sähe denn eine Gesellschaft aus, in der nur die Norm ihren Platz und ihr Recht hätte? Und wer legt überhaupt fest, was das Normale ist? Muss sich Beethoven rechtfertigen, dass er seine letzten Werke taub komponierte? Muss sich der erfolgreiche Bassbariton Thomas Quasthoff für seine Conterganschädigung entschuldigen oder Stevie Wonder dafür dass er blind ist? Aber auch wenn es nicht um große Künstler geht: Ist es nicht auch für die sogenannten Normalen seelisch gesünder, wenn sie nicht ausschließlich an ihrer Leistung gemessen werden und an dem Grad, in dem sie einem äußerlichen Ideal nah kommen?

Genau hier zeigte der Regensburger, der heute in München lebt, Strategien im Umgang miteinander auf, nämlich dass die Behinderten den Nichtbehinderten helfen müssen zu begreifen, dass die Lösung ihrer Probleme nicht nur einer (gar nicht so kleinen) Minderheit zugute kommt, sondern dass die gesamte Gesellschaft davon profitiert, weil es sie menschenfreundlicher und angenehmer macht. Das kann man an einfachen Beispielen nachvollziehen: So erleichtert barrierefreies Bauen, hindernisfreie Gehwege und behindertengerechte Sanitäranlagen nicht nur Rollstuhlfahrern, Blinden oder Körperbehinderten das Leben, sondern auch Müttern mit Kinderwagen, Senioren und vielen Anderen, die weit davon entfernt seien, amtlich anerkannte Behinderte zu sein. Auch muss man den Menschen immer wieder ins Bewusstsein rufen, dass es jeden und jeder Zeit treffen kann.

Behinderung ist nicht zwangsläufig vererbt, oft ist sie Folge von Unfällen, Krankheiten oder einschneidenden Erlebnissen. Insofern, so Radtke, sei auch die Forderung nach Integration im Grunde obsolet, denn integrieren müsse man nur etwas, was von außen kommt. Behinderte aber gehören so oder so dazu. Es gilt nur, sie auch an dem gesellschaftlichen Leben einschließlich der Entscheidungsprozesse der Politik zu beteiligen.

„Inklusion – Dabei sein!“ ist das neue Schlagwort in diesem Zusammenhang und auch Titel des diesjährigen Aktionstages. Die sei auch dringend nötig, denn ihn beschleiche regelmäßig größtes Unbehagen, wenn Politiker den Artikel 27 der UN-Konvention lobten. Radtke wörtlich: „Wenn die gelesen hätten, was da drin steht, wären sie vorsichtiger. Schließlich bedeutet es in letzter Konsequenz die totale Umgestaltung des gesamten Systems.“ Doch Papier ist geduldig, das weiß auch Peter Radtke. Letztlich gehe es immer darum, wie eine solche Vereinbarung im wahren Leben tatsächlich umgesetzt wird und da gebe es noch genug zu tun, insofern sei auch dieser Protesttag nach 19 Jahren noch immer nötig, auch wenn es damit nicht getan sei.

Protestieren, ergänzte Radtke, kommt von dem lateinischen Wort „protestare“. Es bedeutet übersetzt: Zeugnis für etwas ablegen, nicht (an)klagen und lamentieren. Das ist ohnehin nicht die Sache dieses Mannes. Der promovierte Sprachwissenschaftler, der u.a. die Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien (abm) aufgebaut hat und leitet, Mitglied im Nationalen Ethikrat ist und Träger des Bundesverdienstkreuzes und zahlreicher anderer Preise und Ehrungen, feiert auch als Schauspieler und Autor Erfolge, und das obwohl er seit seiner Geburt an der Glasknochenkrankheit leidet. Insofern hatten seine Worte bei dieser Veranstaltung besondere Authentizität. Sein Aufruf: „Wir dürfen uns nicht verstecken, wir müssen auf die Anderen zugehen und wir müssen vor allem untereinander solidarisch sein,“ wurde – untermauert durch das Beispiel seines eigenen Lebens – zu einer Aufforderung, deren Überzeugungskraft sich keiner im Saal entziehen konnte.

Entsprechend groß war dann auch die Beteiligung an der anschließenden Diskussion. Man spürte es förmlich: Dr. Radtke hatte durch seinen Vortrag etwas in den Köpfen seiner Zuhörer ins Rollen gebracht, etwas, das hoffentlich wie ein Schneeball wächst und an Gewicht und Umfang gewinnt.

100509_Aktionstag1Die Unterstützung der Stadt ist denen, die aktiv werden wollen, jedenfalls sicher. Bürgermeister Dr. Dippel, der auch Sozialdezernent und Behindertenbeauftragter der Stadt ist, hat schon in den zurückliegenden Jahren seit seiner Amtseinführung sein streitbares Eintreten für die Rechte Benachteiligter bewiesen. So wird er auch weiter die zahlreichen Verbände, Vereine und Selbsthilfegruppen unterstützen, die sich in Fulda zur „Liga der Freien Wohlfahrtspflege“ zusammengeschlossen haben, aber er will auch jüngere Erfolgsmodelle wie die „Behindertensprechstunde“ weiterführen und ausbauen. Dabei können Betroffenen ihm und seinen Mitarbeitern ganz direkt von ihren Erfahrungen und ihren Schwierigkeiten berichten, so dass gemeinsam nach einer Lösung gesucht werden kann, denn “nur das persönliche Gespräch von Mensch zu Mensch schärft das Gespür füreinander.“

Den Abschluss der Veranstaltung bildete die Podiumsdiskussion, die sich verstärkt noch einmal dem Themenbereich „Menschen mit Behinderung und Arbeit?!“ widmete. Unter der Moderation des Wirtschaftsjournalisten Günter Ederer trafen folgende Teilnehmer aufeinander: Christine Kircher vom Selbsthilfebüro Osthessen, die noch einmal klar machte, worum genau es in der UN-Konvention zum Thema Menschen mit Behinderung und Arbeit geht, Reiner Kottusch von der Agentur für Arbeit, der als Reha-Berater von der Arbeitsmarktsituation für Menschen in Fulda berichtete, Herr Gröger, der als Betroffener Arbeitnehmer im Antoniusheim seine persönlichen Erfahrungen beisteuerte, Dominique Vilmin von der „Carisma“ (WfbM für psychisch kranke Menschen), der auf die besondere Situation psychisch kranker Menschen einging, und Frau Dr. Vogel vom Kreisgesundheitsamt, zuständig für die Koordination der Psychiatrien.

Der Aktionstag Grundgesetz wurde von der Liga der freien Wohlfahrtspflege Fulda und dem Bündnis „Aktion Grundgesetz organisiert und von Christine Kircher von der Selbsthilfe Osthessen moderiert. Sämtliche Redebeiträge wurden von Werner Althaus vom Caritas Sozialdienst simultan für Gehörlose in Gebärdensprache übersetz. Weitere Informationen zum Aktionstag Grundgesetz und zu den Beteiligten Verbänden und Initiativen: http://www.rcvfulda.caritas.de/

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